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PLÄTZE IN DER 'OFFENEN STADT' 
Interview mit Benedikt Boucsein

Herr Boucsein, welche Gestaltungselemente spielen für die visuelle Wahrnehmung öffentlicher Räume eine besonders wichtige Rolle? 

Für den Gesamteindruck, das Gefühl, auf einem Platz zu sein, sind seine baulichen Kanten wichtig – also wie der Platz gefasst ist, wie groß er wirkt, ob er in die umgebende Stadt eingewoben ist. Auch die Elemente, die sich auf Augenhöhe befinden, beeinflussen die Wahrnehmung stark. Also vor allem ob die Erdgeschosse der angrenzenden Gebäude offen oder geschlossen, monoton oder vielfältig sind, aber auch Stadtmobiliar wie Straßenlaternen, Schilder und Bänke. Und natürlich, was wir oft vergessen: Autos sind ganz wesentliche Gestaltungselemente, ich persönlich finde sie größtenteils eher im Sinne einer Verunstaltung, und öffentliche Räume profitieren ganz wesentlich von ihrer Abwesenheit.

 

Welche Rolle spielen Plätze heute für das Erleben europäischer Städte? 

Plätze sind Identifikations- und Orientierungsorte, an ihnen verankert sich das visuelle Bild einer Stadt. Zumindest meine Erinnerungen an europäische Städte sind oft ganz wesentlich mit ihren eindrucksvollen Plätzen verknüpft, sei es der Piazza del Campo in Siena, der Piazza San Carlo in Turin, aber auch bestimmte Squares in London oder der Alexanderplatz des Berlins der Nachwendezeit. Plätze können auch den Wandel einer Stadt symbolisieren, wie beim Place de la Bourse in Bordeaux, wo ein vormals von einer Stadtautobahn durchschnittener Platz über eine Verkehrsberuhigung und einen 'Mirroir d’eau' der Stadt eine ganz neue Beziehung zum Wasser geschenkt hat. Und im Instagram-Zeitalter haben Plätze sicher nichts von ihrer Wichtigkeit verloren, sie geben einen perfekten Hintergrund für Selfies ab. 

 

Wie können schon bestehende Plätze im Sinne einer 'offenen Stadt' genutzt werden?

Ein Nationales Forschungsprogramm an der ETH Zürich hat für Qualitäten von öffentlichen Raumen sieben Kriterien aufgestellt: Zentralität, Zugänglichkeit, Brauchbarkeit, Adaptierbarkeit, Aneignung, Diversität und Interkation. Für Plätze bedeutet dies, dass sie für viele Nutzer:innen eine Bedeutung haben müssen und für sie räumlich und zeitlich offenstehen sollten, verschiedenen Anforderungen gerecht werden und sich auch an deren Wandel anpassen können. Zudem müssen unterschiedliche Nutzer:innen und soziale Milieus den Platz präsent und aktiv sein und auf ihre spezifischen Bedürfnisse bezogen beanspruchen können. Auch muss ihnen Möglichkeit gegeben werden, positiv aufeinander einzuwirken. 

 

Ein sehr gelungenes Beispiel finde ich hier z.B. den Sechseläutenplatz in Zürich, der zuerst einmal vor allem eine graue Fläche zu sein scheint. Bei der genaueren Beobachtung merkt man aber, dass der verwendete Stein sehr warm und angenehm ist, dass es ein Wasserspiel für Kinder gibt (um das sich oft ältere Menschen gruppieren, die zuschauen), andererseits aber auch ein Café, in dem Zeitungsleser sitzen oder Geschäftsgespräche geführt werden, dass in einer Ecke geskatet wird, usw.. Alle kommen hier an einem zentralen Ort zusammen. Entscheidend sind zudem die überall auf dem Platz verteilten Metallstühle, die paarweise aneinander gekettet sind. Sie sind frei beweglich, und erstaunlicherweise werden nur wenige davon gestohlen – wohl auch, weil es eher mühsam ist, zwei davon zu schleppen. Ich erinnere mich noch gut an die Diskussionen, als dieser Versuch gewagt wurde, viele Beobachter waren skeptisch. Das Vertrauen in die Stadtbevölkerung hat sich aber schlussendlich gelohnt. Viele Diskussionen und sogar eine Volksabstimmung gab es aber auch jeweils um die Frage, wie viele Tage im Jahr der Platz frei von Veranstaltungen sein soll. Das scheint mir auch zentral zu sein: Ein Platz darf nicht übernutzt werden, er braucht Luft zum Atmen. 

 

Gibt es planerische Möglichkeiten, die eine offene Nutzung von Stadtplätzen begünstigen? Welche Rolle kann Digitalisierung dabei spielen? 

An Stadtplätzen braucht oft gar nicht so viel gemacht werden, weniger ist oft mehr. Sie können mit einfachen Mitteln wie den erwähnten Stühlen offener und aneigenbarer gemacht und unkompliziert zugänglich gemacht werden, dann erobern sich die Bürger:innen den Platz meist ganz von alleine. Digitale Mittel können sicher dabei helfen, die Nutzung eines Platzes besser zu verstehen, z.B. indem Bewegungsmuster analysiert werden. Aber am Ende muss man als Planer auch dafür offen sein, gar nichts zu verändern. Eine der in Fachkreisen berühmtesten Platzgestaltungen ist ja die Gestaltung des Place Leon Aucoc, ebenfalls in Bordeaux, durch das Büro Lacaton Vassal. Diesen sollte das Büro 'verschönern', stellte jedoch bald fest, dass er eigentlich schon sehr gut funktionierte und auch eine angenehme Atmosphäre hatte. Sie regten an, ein regionales Fest wieder einzuführen, den Hundekot öfters zu entfernen, und entfernten eine Abbiegespur für Autos – das war’s. Diese entspannte Haltung des genauen Hinsehens und des minimalen Eingriffs ist für mich die alleraktuellste, viel aktueller als alles, was mit der Digitalisierung zu tun hat. 

 

Das Interview führte Gregor Nagler 

 

 

Benedikt Boucsein studierte von 1999-2005 an der RWTH Aachen und der ETH Zürich Architektur und promovierte von 2005-08 an der ETH zur "Grauen Architektur" der Nachkriegszeit. Von 2007 bis 2017 forschte und lehrte er an der ETH Zürich bei Felix Claus und Kees Christiaanse. 2007 gründete er mit Axel Humpert und Tim Seidel das Büro BHSF Architekten in Zürich. 2018 wurde er auf die Professur für Urban Design an die TUM berufen. Der Hauptfokus seiner Arbeit liegt auf der Europäischen Megalopolis.

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